„Das Wichtigste, was Kinder brauchen, sind keine Regelwerke, keine von außen gesetzten Grenzen. Das Wichtigste ist Kontakt zu Menschen“, sagt Familienberaterin Judith Kroy. Mit diesem Schlusswort beendet sie am Donnerstagabend ein spannendes Erziehungsseminar, das in der Kiez-Akademie des Projektes NordStart im Reitbahnviertel stattgefunden hat. Eine Erzieherin hat zuvor aus ihrem Arbeitsalltag von schwer erziehbaren Kindern, von Systemsprengern und -Verlierern berichtet und die 53-jährige Dozentin zu eben jenem Schlusswort inspiriert.
30 Teilnehmer haben trotz vermehrter Corona-Warnungen ihren Weg zu dem vierstündigen Seminar unter dem Thema „Brauchen Kinder Grenzen“ gefunden. Bevor die Dozentin Judith Kroy jedoch mit ihnen ins Gespräch kam, erläutert sie ihre Erziehungsprinzipien und Einstellungen zu Kindern. Als erklärte Liebhaberin der Philosophie von Jesper Juul bezog sie sich während des Abends immer wieder auf ihr Idol, das im vergangenen Jahr im Alter von 71 Jahren an einer Lungenentzündung starb. „Ob Kinder Grenzen brauchen oder haben, ist ein sehr aktuelles Thema“, sagt Judith Kroy. Denn nachdem die jetzige Elterngeneration zu Gehorsamkeit erzogen wurde und dies nun hinterfragt, entsteht eine Art luftleerer Raum. Judith Kroy zuckt mit den Schultern und erklärt, wie man jetzt vor seinem Kind stehe und es keinen tradierten Umgang mit den Söhnen und Töchtern mehr gebe. Jesper Juul selbst sprach von einem Paradigmenwechsel, der für die heutige Elterngeneration Belastung und Chance zugleich sei.
Zum Höhepunkt des Seminars fasst die Familienberaterin einen fatalen Irrtum zusammen. „Jeder Mensch hat Grenzen, ob er sie spürt oder nicht. Und unsere Kinder haben von Anfang an welche. Nur müssen wir ihre Signale erst erkennen und dann anerkennen“, erklärt die Germanistin und Philosophin. Eine typische Grenzziehung, die Kleinstkinder bereits vornehmen, sei das sogenannte Fremdeln. „Sie wissen genau, wessen Nähe sie wollen und wessen Nähe eben nicht“, sagt die Beraterin. Wenn sich nun das Umfeld bei Mädchen beispielsweise immer wieder darüber hinwegsetzt. Das Kind müsse doch auch mal zu Oma auf den Arm, sonst gewöhnt es sich nie daran, nennt sie eine typische Ansicht, die sie nicht teilt. „Hier werden Grenzen schon rigoros, manchmal brutal, übergangen“, sagt Kroy. Dann müssten sich Eltern zwölf Jahre später nicht wundern, wenn dieses Mädchen Schwierigkeiten habe, sich gegen männliche Zugriffe adäquat und stark zu wehren.
Damit Kinder später wissen, was sie wollen und was nicht, brauchen sie authentische Erwachsene, die ihre eigenen Grenzen aufzeigen. „Und nicht solche, die an den Grenzen der Kinder herumdoktern“, erklärt sie. Gerade für stark strapazierte Eltern könne diese Einstellungsänderung auch eine ersehnte Entspannung in der Familie bringen. Man müsse dem Kind nicht erzählen, wann es hungrig oder müde sei. Man müsse ihm nicht erzählen, mit wem es seine Spielsachen zu teilen habe. „Wir sollten aufhören, bestimmen zu wollen“, erklärte eine Teilnehmerin voller Leidenschaft. Die Zeit sei gekommen, Führung zu übernehmen und Vertrauen zu haben.
Das Erziehungsseminar zu Kindergrenzen bildete den Auftakt einer Veranstaltungsreihe. Am 28. April geht es in der Kiez-Akademie um das Thema „Machen Computerspiele dumm und brutal“. Die Einrichtung an der Hürde 1 ist das lebendige Herz des Projektes NordStart, das im Rahmen des ESF-Bundesprogramms „Bildung, Wirtschaft, Arbeit im Quartier – BIWAQ“ durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat und den Europäischen Sozialfonds gefördert wird.